Stefan | Wien

Hier die Millionenstadt Wien und dort geht man zwanzig Minuten den Weg hinauf und ist mitten in der Natur. Mein Wiener Lieblingsort ist im Wiener Wald das Diana Brünndl. “Es steht scheinbar außerhalb von Zeit und Veränderung. An diesem Lieblingsort kann ich innehalten, verweilen, frei entscheiden, in welche Richtung ich weitergehen will. Das kristallene Wasser fließt tagein, tagaus. Nur selten ist es im Winter zu Eis erstarrt. Hier ist man in Wien und fern ab von Wien zugleich. Jeder Schluck ist ein Zusichkommen, jeder darauffolgende Schritt passiert im Bewusstsein, dass dieser Ort eine besondere Aura hat”.

Über diesen Lieblingsort habe ich einen Text auf Story.One veröffentlicht. Ein Freund von mir erstellt ein Buch, in dem jeder seiner Freunde einen Lieblingsort beschreibt. Das Brünndl allein reicht nicht für eine Geschichte. Deshalb habe ich mich gefragt, wie es hier in der Umgebung früher ausgesehen hat, habe ein bisschen recherchiert und mit der ansässigen Bevölkerung gesprochen. Früher war es etwa ganz normal unter den Wienern, mit dem Zug nach Hütteldorf zu fahren und den Hang hinaufzuspazieren. Heute ist hier niemand mehr außer ein paar vereinzelte Anwohner. Wenn die Wiener heute wegfahren, fahren sie in die Skigebiete, nach Griechenland oder nach Italien.

Was mich des Öfteren Richtung Quelle zieht, ist der Weg durch die schlichte, aber schöne Natur und die Entschleunigung durch das mangelnde Reizangebot. Beides trägt sehr zur Psychohygiene bei. Ein Loswerden des alltäglichen Ballasts, ohne Extremsport betreiben zu müssen. Das Unspektakuläre des Ortes erschafft den Ruhepol, der mir bei der gedanklichen Fokussierung und beim Stressabbau hilft.

Gab es Paradigmenwechsel in deinem Leben?

Vor etwa 13 Jahren kam eine neue Mitbewohnerin in mein Leben. Eine Mitbewohnerin mit vielen Ansprüchen, für die man immer da sein muss. Ihre Windeln wechseln, sie füttern, bei den Hausaufgabe helfen, die persönliche Entfaltung ermöglichen. Ganz schön viel, wenn man sich vorher nur um sich selbst kümmern musste. Drei Jahre später folgte der nächste Mitbewohner. Zuvor war mein Fokus eher auf die eigene Entwicklung gerichtet, die ganze Welt stand mir offen. Diese Beliebigkeit verschwand schlagartig mit der Geburt der Kinder. Zuvor dachte ich immer, mein Leben wird besser, je mehr Freiheiten ich habe. Es hat sich aber dann gezeigt, dass es zwar eine massive Lebenseinschränkung bedeutet, Nachwuchs aufzuziehen, aber auch unglaubliche persönliche Ressourcen freisetzt. Wie habe ich nur vorher meine Zeit verschwendet! Tagelang rumsitzen, irgendwelche Bücher lesen und die Gedanken treiben lassen. Mit den Kindern hatte ich dann nur noch eine Stunde pro Tag Zeit und habe das Doppelte geschafft!

In solchen Momenten zeigt sich, dass auch eine Beschränkung der Freiheit des Individuums dazu führen kann, dass sich das Individuum neue Freiheiten schafft, die es aus sich selbst heraus nie entwickelt hätte. Diese Paradoxie finde ich spannend – Peter Sloterdijk meinte einmal „also ein Individuum ist mir noch nie begegnet“. Wir fühlen uns zwar als Individuen, aber genau genommen sind wir stets mit unserem Umfeld verbunden. Was sollte denn ein einziges Individuum tun, an was sollte es sich reiben, worüber sollte es Ideen und Perspektiven entwickeln, wo sollte es so etwas wie Abwehr empfinden und etwas ganz anderes machen als die Masse; wenn es die Masse nicht gäbe, könnte die Idee, dass ich ein Individuum sei, gar nicht entstehen.

Bist du schon einmal ‘abgezweigt’ im Leben?

Ich bin oft abgezweigt und doch immer auf demselben Weg geblieben. Ich bin in Vorarlberg aufgewachsen und wollte so weit wie möglich weg, nach Wien. Erst war ich dem Vorschlag meines Vaters gefolgt, Wirtschaft zu studieren, habe mich dabei aber furchtbar gelangweilt. Da das Fach nicht sehr fordernd war, habe ich nebenher mit Psychologie begonnen. Meine Hoffnung war, dort intellektuell weiter voran zu kommen. Auch dieses Studium war aber eher konventionell. Erst gegen Ende kam ich mit Kulturpsychologie und qualitativer Sozialforschung in Kontakt. Das war wie eine Offenbarung. Endlich habe ich gelernt, wie sich die Muster des menschlichen Verhaltens systematisch untersuchen lassen.

Meiner Meinung nach ist die Kulturpsychologie jener Bereich, der für das Gesamtfach das größte Entwicklungspotenzial hat. Denn der Mainstream der Psychologie kann zwar messen und objektivieren, aber nicht verstehen. Der Mainstream fokussiert die Unterschiede, Kulturpsychologie lehrt uns auch die zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten zu achten. Dieser Ansatz lässt sich etwa auch bei der Konfliktlösung nutzen. Denn Konflikte können nur dort entstehen, wo man sich zumindest einig über den Streitgegenstand ist. Im Konflikt gibt es daher immer die Möglichkeit, statt des Trennenden das Verbindende zu kultivieren. Der Konflikt ist nur die Spitze des Eisberges; unter der Oberfläche schlummern die Gemeinsamkeiten, die darauf warten, stärker ins Bewusstsein gerufen zu werden.

 

Was ist dein Lieblingsfilm?

Gerade habe ich Short Cuts von Robert Altman (1993) wiederentdeckt. Zu Beginn des Films werden über der Stadt Chemikalien gegen Fruchtfliegen versprüht. Im Laufe des Films fragt man sich, ob sich deshalb manche Menschen so komisch verhalten, aber nein – die Menschen verhalten sich komisch, ganz einfach, weil sie Menschen sind.

Filmanalysen beschäftigen mich auch beruflich. Mir geht es darum, den Dokumentsinn von Filmen herauszufinden. Selbst der genialste Regisseur ist durch die Strömungen seiner Zeit geprägt. Wie in einer archäologischen Expedition kann man die Welt des Drehzeitpunkts „ausgraben“ und herausstellen, was die Menschen und die Gesellschaft damals beschäftigt hat. Spannend sind immer Neuverfilmungen. Zum Beispiel der deutsche Film ‘Der Himmel über Berlin’ von 1982, der später als ‘City of Angels’ in Hollywood neu verfilmt wurde. Während die deutsche Version ein intellektuelles und existentielles Filmspektakel darstellt, wird in der amerikanischen Version eher platt eine Love-Story betont.

Was hat dich in letzter Zeit glücklich gemacht?
Schnee und Sonne beim Skifahren. In Zeiten des Klimawandels ist das etwas Besonderes, das ich schätze, noch erleben zu dürfen.

Was hat dich in letzter Zeit traurig gemacht?
Dass man schneller älter wird, als man denkt.

Was ist dein Motto fürs Leben?
Mein Sohn beschäftigt sich viel mit YouTube. Was mich inspiriert, ist, dass er sich über seine ersten zwei Abonnenten genauso gefreut hat wie über die ersten tausend. Dieses Dranbleiben und sich auch über kleine Erfolge freuen, inspiriert mich.

Was macht dich optimistisch für die Zukunft?
Meine Kinder und ihre unbeschwerte Herangehensweise ans Leben. Umgekehrt freut mich die Gewissheit, dass auch sie annehmen, was ich ihnen versuche mitzugeben.

Was würdest du eine andere Person in einem Interview fragen?
Mich würde interessieren, woher man kommt und wohin man geht.

Woher kommst du und wohin gehst du?
Vom Land in die Stadt. Aus der weiten Welt zurück nach Wien. Räumlich habe ich Wurzeln geschlagen, beruflich kann die Reise noch Umwege nehmen.



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